Waibel wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und rülpste dezent in die vorgehaltene Hand. Das, so schwor er sich, war der letzte Döner gewesen, den er in seinem Leben gegessen hatte. Oder in diesem Jahr. In diesem Monat. Er schüttete den letzten Schluck des bereits warmen Biers hinunter und stemmte sich aus dem Plastikstuhl hoch. Die Hose saß unangenehm stramm. Er öffnete den Gürtel und suchte nach einem weiteren Loch, doch da war keines mehr. Unwillig grunzend zog er wieder zu. Ab heute würde er sein Leben ändern. Oder zumindest seine Ernährungsgewohnheiten. „Servus, Achmed!“ Er hob die Hand zum Gruß. “Tschüss, Chefinspektor. Morgen wieder?” Waibel winkte ab und machte sich auf den Weg die Meidlinger Hauptstraße hinunter. Der ganze Vormittag war sinnlos draufgegangen, keiner der türkischen oder auch arabischen und syrischen Händler und Gastronomen hatte auch nur ein einziges Wort zum Thema Schutzgelderpressung von sich gegeben. Wenn sie unbedingt zahlen wollten, dann sollten sie. Sein Problem war es nicht.
Kurz vor der U-Bahn-Station Meidlinger Hauptstraße hielt er inne. Gleich um die Ecke war die Apotheke, wo er bei der feschen brünetten Apothekerin immer seine Tabletten abholte. Gegen Bluthochdruck, für den Blutzuckerspiegel, für’s Herz und gegen das Cholesterin. Jedes Jahr mehr. Aber die Apothekerin hatte immer ein freundliches Wort für ihn. Die konnte er fragen, wenn es um’s Abnehmen ging. „Pharmacy“ stand ganz oben an der dunkelgrünen Fassade, und „Team Santé“ darunter. Englisch und Französisch. Türkisch und Kroatisch wären, so fand er, durchaus passender. Er trat in die angenehm klimatisierte Apotheke ein und hoffte, dass er unter den Armen nicht allzu sehr schwitzte. In seiner Stammapotheke wollte er schon einen guten Eindruck hinterlassen.
Zu seinem Leidwesen stand hinter der Theke ein junger Mann mit gefährlich hohem Haaransatz. Das war dumm. Was er zu besprechen hatte, war vertraulich. Er nahm sich ein Herz. „Die Frau Magister Wagner, die ist wohl nicht da?“ „Doch!“, nickte der junge Mann. „Nur gerade auf Pause. Wenn Sie mit mir …“ Waibel schüttelte den Kopf. „Es ist … mehr privat. Wenn’s keine Umstände macht?“ „Sehr wohl!“, sagte der junge Mann und drehte sich um, Waibel aber entging sein fast unmerkliches Kopfschütteln nicht. Er atmete tief durch, hatte dabei aber ein Gefühl, als bekomme er zu wenig Luft, auch meinte er, ein kaum vernehmbares Rasseln dringe aus seiner Lunge.
„Guten Tag, Herr Chefinspektor!“ Frau Wagner verstand es, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Sie gefiel ihm heute besonders gut, am Ende hatte sie sogar etwas übrig für ihn, er musste sich den Mut nehmen, einmal zu fragen. Zuerst aber, so sagte er sich, musste er abnehmen. Zwei Löcher im Gürtel, mindestens. „Was kann ich denn heute für Sie tun? Blutdruck? Galle?“ Sie lächelte ein wenig schelmisch. Ob sie mit ihm flirtete? Es sollte ja Frauen geben, die großen, kräftigen Männern durchaus zugetan waren. Er beugte sich vor und flüsterte: „Abnehmen will ich! Muss ich! Haben Sie da nicht was?“ Die Frau Wagner sah ihn aus ihren großen, braunen Augen verblüfft an. „Ja, aber warum denn? Sie sind doch auch so …“ Sie vollendete ihren Satz nicht und legte stattdessen schamhaft eine Hand vor ihren Mund. „Da gibt es schon Präparate“, sagte sie schließlich. „Aber um ehrlich zu sein, damit ist es nicht getan!“ Sie griff in das Regal hinter sich und stellte eine hohe runde Dose vor ihn hin. „Das ist schon sehr wirksam, es ist ein Appetitzügler. Das Mittel täuscht Sättigung vor. Aber bei hohem Blutdruck … da sollten Sie zuerst mit einem Arzt reden.“ Die Frau Wagner hatte sich vorgebeugt und ihre Erklärungen im Flüsterton vorgebracht. Waibel konnte ihr betörendes Parfum deutlich riechen.
„Frau Chefin!“ Plötzlich kam ein sehr junges, farbenfroh geschminktes Mädchen aus dem Hintergrund hervorgeschossen. „Frau Chefin!“, flüsterte sie, sichtlich erregt. Frau Wagner drehte sich zu ihr um. „Melanie, kein solches Theater vor den Kunden! Was ist denn?“ Melanie zog Frau Wagner am Ärmel hinter sich her. Waibel gelang es, einen Blick auf das Blatt zu werfen, das sie in der Hand hielt. Es schien mit Buchstaben aus einer Zeitung beklebt. „Entschuldigung!“, sagte Frau Wagner, rollte mit den Augen und folgte Melanie durch eine Tür hinter dem Tresen. Waibel spürte, dass hier irgendetwas nicht stimmte, und entschloss sich, ganz gegen alle Regeln, die für Kunden galten, den beiden Frauen zu folgen. Als er die Tür öffnete, hielt Frau Wagner das Schriftstück in Händen, Melanie schien bereits in Tränen aufgelöst. „Oh Gott! Gut, dass Sie gekommen sind! Sehen Sie!“ Frau Wagner hielt ihm den Bogen vor die Augen, bei dem es sich offensichtlich um irgendeine Art von Drohung handelte. „Fallen lassen!“, rief Waibel. Frau Wagner erschrak, das Papier flatterte zu Boden. Waibel zog einen Plastikbeutel hervor, stülpte einen Handschuh über und stopfte den Bogen in den Beutel. „So!“, meinte er. „Spuren gesichert.“ Dann las er. „100.000 will ich!“, stand darauf. „Sonst fackle ich eure Bude ab!“
Verwundert hielt Waibel den Drohbrief so, dass ihn auch Frau Wagner, die Apothekerin, lesen konnte. „Wer könnte da was gegen Sie haben? Und vor allem, warum?“ Frau Wagner zitterte, als sie den Brief, den Waibel schon in einen Plastikbeutel gesteckt hatte, zur Hand nahm. Sie zuckte mit den Schultern. „Was können wir denn da tun?“ Melanie, die Assistentin, die den Brief geöffnet hatte, mischte sich ein. „Da war noch was drin, in dem Kuvert!“ „Nicht berühren!“, kommandierte Waibel, so lautstark, dass die beiden Frauen zusammenzuckten. Wenig später hielt er einen ganzen Packen Ausdrucke in der Hand, den er aus dem verdächtigen Kuvert geborgen hatte. „Pharmaindustrie Verbrecher!“ stand in Handschrift, sozusagen als Überschrift, ganz oben auf der ersten Seite. Schnell hatte er sich einen Überblick verschafft. Die ganzen Zettel waren Ausdrucke von Internetseiten, die Verschwörungstheorien verbreiteten. Wenn man ihnen Glauben schenkte, waren sämtliche Medikamente der Schulmedizin, inklusive aller Impfungen, nichts als gefährliche Gifte, die die Industrie dazu benutzte, die gesamte Bevölkerung gefügig zu halten. „Was halten Sie davon?“ Waibel und Frau Wagner hatten hinter einem Schreibtisch Platz genommen, um die Papiere durchzusehen. „Es gibt immer wieder Anfeindungen, auch wir hatten schon Kunden, die wutentbrannt herumgeschrien haben, weil sie meinen, ein Medikament habe ihnen geschadet. Kommt aber zum Glück selten vor.“ Frau Wagner hatte sich etwas beruhigt, brauchte aber dennoch ein Papiertaschentuch, um sich die feuchten Augenwinkel zu betupfen. Gerne hätte Waibel ihr seine Hand beruhigend auf den Unterarm gelegt, wagte es aber nicht.
„Könnten Sie versuchen, herauszufinden, ob auch andere Apotheken solche Schreiben bekommen haben?“, fragte Waibel. „Vielleicht solche, mit denen Sie zusammenarbeiten?“ Frau Wagner nickte. „Das wären vor allem die Team Santé-Apotheken. Davon gibt es elf.“ Sie zog ein Telefon an sich heran. Waibel seufzte. Der Fall konnte schwierig werden. Wenn es ein abgewiesener Verehrer von Frau Wagner gewesen wäre, den hätten sie schnell gehabt. Aber so? Ein Verrückter? Einer, der Verschwörungstheorien anhing, die im Internet verbreitet wurden? Er stand auf und betrat den Verkaufsraum. Dort ließ er seine Blicke über die Regale schweifen. „Hautpflege für Männer“ las er an einem. Er trat näher. Wozu sollte er eine Feuchtigkeitscreme benutzen? Vorsichtig strich er über seine Wange. Etwas trocken schien sie schon zu sein. Waibel hatte Lust auf eine Zigarette, wagte es aber nicht, aufzustehen und vor dem Eingang eine zu rauchen. Frau Wagner telefonierte und machte sich Notizen.
„So!“, sagte sie. Ich habe jetzt unsere Partnerapotheken in Villach und in Klagenfurt angerufen. Und die beiden Standorte in Wolfsberg. Das wären alle in Kärnten. Keine Drohbriefe. Sie werden aber aufmerksam ihre Post beobachten.“ Waibel nickte. „Und sie sollen auch auf Kunden achten, die sehr emotional gegen die Schulmedizin auftreten“, riet er. „In diesem Bereich müssen wir unseren Täter suchen. Oder die Täterin.“ Frau Wagner nickte. Sie konnte schon wieder lächeln. Wie gut es doch den Opfern von Verbrechen tat, wenn sie aktiv sein, etwas tun konnten. Immer wieder hatte er das beobachtet.
In diesem Moment klingelte das Telefon, das Frau Wagner soeben benutzt hatte. Eine aufgeregte Stimme meldete sich. „Bist du’s, Katharina? Wir haben einen Drohbrief bekommen! Stell dir vor! 100.000 Euro will er! Sonst zündet er unsere Apotheke an!“ Frau Wagner erblasste und sah Waibel mit schreckgeweiteten Augen an. Er fasste nach dem Hörer. „Hier Waibel, Chefinspektor Waibel. Auch hier ist so ein Brief angekommen, ich ermittle. Mit wem spreche ich?“ „Victoria Schiller. Paulus-Apotheke, Landstraßer Hauptstraße. Wir gehören auch zum Team Santé. Was soll ich denn jetzt machen?“ „Zuerst“, sagte Waibel, „beruhigen Sie sich einmal. Der Täter hat hierher genau das gleiche Schreiben geschickt, ein einzelner Erpresser kann ja nicht eine ganze Kette von Apotheken abfackeln, das sind wohl nur leere Drohungen. Trotzdem werden wir Ihnen Kräfte schicken, ich sorge dafür.“ Waibel legte auf und stellte fest, dass seine Hand auf dem Arm von Frau Wagner ruhte. Er konnte sich nicht erinnern, wie sie da hingekommen war. Frau Wagner tat nichts dazu, ihren Arm seinem Griff zu entwinden und schien sich beruhigt zu haben.
Nur wenig später stand fest, dass auch am dritten Wiener Standort, der Germania-Apotheke in der Hütteldorferstraße, ein gleichlautendes Drohschreiben eingetroffen war. Waibel hatte Mitarbeiter zu beiden Standorten entsandt und veranlasst, dass die Apotheken rund um die Uhr bewacht wurden. „Frau Wagner“, sagte Waibel und stand auf. „Ich weiß natürlich … Sie, als Apothekerin … sozusagen der Gesundheit verpflichtet … aber ich muss jetzt eine rauchen!“ Frau Wagner lächelte. „Ich verstehe schon … der Stress … geht mir auch nicht anders.“ Waibel machte große Augen. „Sie rauchen?“ „Nein, nein!“ Frau Wagner wedelte aufgeregt mit den Händen. „Aber ein wenig Schokolade … gegen die Aufregung …“ „Gut!“, sagte Waibel und nickte mit dem Kopf. „Dann gehen wir jetzt beide vor den Laden hinaus, Sie mit einer Tafel Schokolade und ich mit einer Zigarette.“
„Sehen Sie“, sagte Waibel. „Es ist nichts passiert. Unsere Leute haben heute Nacht alle Ihre Standorte in Wien lückenlos überwacht. Es ist niemand aufgetaucht, der als Brandstifter in Frage gekommen wäre.“ Frau Wagner, die Apothekerin der Schwenk-Apotheke in Meidling, lächelte unsicher. Waibel hatte schon länger ein Auge auf sie geworfen, sich aber geschworen, zunächst abzunehmen, bevor er nach einem Rendezvous fragte.
„Haben Sie heute schon Kontakt mit Ihren weiteren Standorten gehabt?“, fragte Waibel. Die Apothekerin nickte und zog einen Notizblock an sich heran, der neben dem Telefon auf ihrem Schreibtisch lag. „In Wiener Neudorf und in der Salvator-Apotheke in Eisenstadt sind auch heute keine Drohbriefe eingetroffen. Was den Standort in Hausmannstätten und die Linden-Apotheke in Leibnitz betrifft, da kann ich noch nichts sagen. Die Post war heute noch nicht angekommen. Aber wenn Sie wollen, kann ich …“ Waibel winkte ab. „Scheint so, als konzentriere sich unser Täter auf Wien. Was uns die Sache natürlich ganz wesentlich erleichtert.“ Frau Wagner seufzte. „Ich habe mir schon überlegt, heute zuzusperren. Ich kann mich nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Und Sie wissen ja, was das für eine Apothekerin bedeutet. Unkalkulierbares Risiko.“ Waibel zwinkerte beruhigend. „Beschäftigen Sie Ihre Mitarbeiterinnen, und lassen Sie offen. Ich würde mir gerne die Kunden anschauen, die so hereinschneien. Vielleicht …“ Er ließ das Ende des Satzes offen.
Waibels Handy läutete. „Ja?“ Er nickte mehrmals und legte auf. „Wir haben heute drei weitere Briefe abgefangen“, erklärte er. „Was zu erwarten war.“ Frau Wagner sah ihn fragend aus großen Augen an. „Er hat gestern vergessen, die Übergabe zu organisieren. Wir hätten ja gar nicht gewusst, wohin mit den 100.000!“ Waibel schlug sich auf die Schenkel und lachte. „Ein Amateur. Wir stellen ihm eine Falle, denn jetzt kennen wir Ort und Zeitpunkt der geplanten Übergabe.“ „Und?“, fragte Frau Wagner. „Sie werden ausdrücklich als Überbringerin angefordert. Sie sollen eine rot-weiße Papiertragetasche von „Team Santé“ mit dem Geld nehmen und damit zu Fuß Richtung Germania-Apotheke in der Hütteldorferstraße gehen. Auf dem Weg bekommen Sie weitere Anweisungen.“ „Ich?“ Frau Wagner war entsetzt. „Und wenn er mir was tut? Ich weiß nicht!“ Waibel lächelte, als eine brünette Frau durch die Tür trat, die in Frisur, Haarfarbe und Statur Frau Wagner zum Verwechseln ähnlich sah. Waibel stand auf. „Gestatten, Frau Gruppeninspektor Haller, Frau Magister Wagner. Natürlich wird eine Beamtin Ihre Rolle übernehmen. Sie sehen, wir haben uns vorbereitet!“ Frau Haller hatte, so fand Waibel, etwas strengere Gesichtszüge und einen minimal athletischeren Körper als Frau Wagner. Er persönlich zog allerdings das Rundere vor. Er reichte beiden Frauen identische Sonnenbrillen. „Wenn Sie die einmal aufsetzen würden … perfekt! Da müsste Sie jemand schon sehr gut kennen, Frau Wagner, wenn er nicht auf die Frau Haller hereinfallen sollte!“
„Und jetzt?“, fragte Frau Wagner. „Jetzt schicken wir die Frau Haller um Punkt 11 Uhr los. Sie wird Ihr Handy bei sich haben und auf weitere Anweisungen warten. Und wenn Sie so freundlich wären, uns Ihre Handynummer zu verraten, dann lassen wir alles, was auf Ihrem Gerät landet, gleich zu mir durchschalten.“ „Geht denn das?“, wunderte sich Frau Wagner. Waibel nickte. „Haben Sie sich schon darüber Gedanken gemacht, wie der Täter an Ihre Handynummer gekommen ist?“, fragte er. Frau Wagner sah ihn verwundert aus großen Augen an. „Aber … ich sag die doch niemandem … fast!“
„So!“, sagte Frau Haller. „Darf ich um Ihr Handy bitten? Ich muss los!“ Waibel sah ihr hinterher. Ihm kamen Zweifel. Er fand, dass Frau Wagner einen wesentlich eleganteren Gang hatte als Frau Haller. Aber sonst … Er ließ sich auf einem Stuhl nieder, von dem aus er eintretende Kunden im Auge haben konnte. Eine grün-weiße Packung leuchtete ihm entgegen. „Kürbis-Superplus“ versprach Abhilfe gegen häufigen Harndrang und verhieß einen kräftigen Harnstrahl. Waibel seufzte. Vielleicht sollte er bei Frau Wagner Rat suchen, auch, was dieses Problem betraf. Durst hatte er. Und Lust auf eine Zigarette. Aber jetzt musste er … Plötzlich fiel ihm ein Kunde auf, der zur Tür hereintrat. Er blickte nervös um sich, anstatt zielstrebig zum Tresen nach vor zu gehen. Der Mann war schlank, fast dürr, hatte eine Glatze und etwas wirres, ungepflegtes Resthaar darum herum. Er trug einen Pullunder, der vor vielleicht dreißig Jahren einmal modern gewesen sein mochte, und eine graue Hose mit scharfen Bügelfalten. Der Mann entschwand seinen Blicken, als er an die Ladentheke trat.
„Wer war denn der?“, fragte er Frau Wagner, als der Kunde gegangen war. Sie stöhnte. „Herr Beierlein. Eine Nervensäge. Er steigt mir nach. Der kommt fast jeden Tag, nicht, weil er was braucht, sondern weil er mich sehen will. Wir haben schon fast alles versucht, aber …“ Waibel wurde hellhörig. Was, wenn dieser Beierlein ein Stalker war, der es auf Frau Wagner abgesehen hatte? Wenn diese Sache mit dem Hass auf die Pharmaindustrie nur ein Täuschungsmanöver war? Vielleicht war der Täter gerissener, als er gedacht hatte.
Waibels Handy blieb stumm. Warum nur meldete sich Frau Haller nicht? Sie musste doch schon fast in der Germania-Apotheke eingetroffen sein! Waibel überlegte. Er war sich sicher gewesen, dass Haller irgendwo auf dem Weg eine neue Anweisung bekommen würde, doch die war ausgeblieben. Plötzlich schlug sich Waibel an die Stirn. „Was bin ich für ein Trottel! Frau Wagner, schnell, haben Sie ein Auto?“ Katharina Wagner, die Apothekerin der Schwenk-Apotheke in Meidling, schüttelte den Kopf. „Ich fahr immer mit dem Fahrrad …“ „Dann Ihr Fahrrad! Schnell!“ „Ich hab’s im Hof ... aber warum?“ „Nicht fragen! Das Fahrrad!“
Natürlich hatten sie vor dem Einsatz besprochen, welchen Weg Frau Haller nehmen sollte. Schon in der Winckelmannstraße kam Waibel ins Schwitzen, die Knie schmerzten, und auch sein ausladender Hintern bereitete ihm auf dem schmalen Sattel des sportlichen Mountainbikes von Frau Wagner Höllenqualen. Zudem saß der Sattel viel zu tief. Dennoch trat er in die Pedale, so fest er nur konnte. Er war sich sicher, dass der Täter erkannt hatte, dass nicht Frau Wagner, wie vereinbart, mit dem Geld unterwegs war, sondern jemand anderer. Der Täter hatte Frau Wagner wohl über Wochen, wenn nicht Monate hinweg, beobachtet. Sicherlich meist von hinten. Er kannte ihre Art zu gehen, sich zu bewegen, im Schlaf. Natürlich war er nicht auf die Täuschung durch Frau Haller hereingefallen, da hätten sie sich noch so viel Mühe geben können. Und wenn er den Betrug entdeckte, würde sich der Täter womöglich an Frau Haller schadlos halten. Waibel ächzte. Wahrscheinlich hätte er doch dieses La-Vita-Zeugs trinken sollen, das er in der Apotheke gesehen hatte. Hätte ihm womöglich das kleine Bisschen extra an Kraft gegeben, das er jetzt hätte brauchen können.
Er erreichte das Technische Museum, durchquerte den kleinen Gustav-Jäger Park daneben. Er hielt kurz an, rief nach Frau Haller. Der Park war eigentlich sein Tipp gewesen. Der Täter, so hatte er sich ausgemalt, würde irgendwo lauern und Frau Haller die Anweisung erteilen, die Tragetasche in einem Mistkübel zu deponieren und weiterzugehen. „Frau Haller!“, rief er. „Frau Haller, hören Sie mich?“ Kein Laut. Er sah auf sein Handy – keine neuen Nachrichten.
Obwohl der Weg nicht weit war, pfiff Waibel aus dem letzten Loch, als er, kurz vor seinem Ziel, den noch kleineren Forschneritschpark erreichte. „Frau Haller?“ Aus dem Augenwinkel nahm Waibel eine Bewegung wahr, ließ das Fahrrad fallen und hetzte der Person nach, die versuchte, hinter einer Hecke Deckung zu suchen. Die Sorge um Frau Haller verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Sah er da nicht einen altmodischen Pullunder um die Ecke verschwinden?
Waibel setzte mit letzter Kraft zu einem Satz nach vorn an, bekam den Flüchtenden an den Waden zu fassen und riss ihn mit sich zu Boden. Graue Hose, Pullunder, weißes Haar. Herr Beierlein. Waibel packte ihn am Kragen. „Wo ist Frau Haller? Die Frau mit der Tragetasche? Wo?“ Herr Beierlein stöhnte. Doch war da nicht noch ein Stöhnen zu hören? Direkt hinter ihm. „Er hat mir eins über den Schädel gegeben! Mit einem Hammer!“ Waibel drehte sich um. Frau Hallers Gesicht war blutüberströmt.
Wenige Minuten später hatte die Besatzung eines Streifenwagens Herrn Beierlein Handschellen angelegt, Frau Wagner war gerade dabei, Frau Haller einen Kopfverband anzulegen. „Ist gar nicht so schlimm. Wird schon wieder. Bisschen Kopfweh.“ Frau Haller versuchte, von der Parkbank aufzustehen. „Sie bleiben schön sitzen. Wir warten, bis die Rettung kommt.“ Waibel staunte. „Wie sind Sie denn so schnell hierhergekommen?“ Frau Wagner lächelte. „Ich hab das Fahrrad von der Melanie genommen. Ich konnte Sie doch nicht ganz allein und schutzlos … also …“ Sie wusste nicht weiter. Waibel meinte, einen verräterischen Glanz in ihren Augenwinkeln wahrzunehmen. Er lächelte. „Aber um mich brauchen Sie sich doch nicht zu sorgen!“
Frau Wagner trat auf Herrn Beierlein zu, den die Beamten ebenfalls auf einer Parkbank platziert hatten. „Herr Beierlein!“ In ihrer Stimme schwangen Vorwurf ebenso wie Bedauern mit. „Was ist Ihnen denn da eingefallen? So etwas tut man doch nicht!“ Beierlein sah hoch. „Wenn Sie mich doch hintergangen haben! Und gar nicht selber gekommen sind!“ Seine Stimme klang weinerlich. Waibel mischte sich ein. „Warum die Erpressung?“ „Weil sie mich nie beachtet hat! Mit den anderen Männern hat sie geflirtet, aber wenn ich gekommen bin, hat sie sich verleugnen lassen! Die Schlampe!“
Waibel wandte sich kopfschüttelnd ab. „Wie wär‘s demnächst mit einer gemeinsamen Fahrradtour?“ Frau Wagner lächelte ihm zu. Sie wusste, dass Beierlein sie beobachten konnte. Waibel nahm sie am Arm und führte sie ein Stück weit weg von der Bank, auf der Beierlein saß. „Meinen Sie das ernst? Ich bin schlecht in Form! Und Sie könnten … gewiss jemand finden, der fitter ist … als ich?“ Frau Wagner grinste verschmitzt. „Ich möchte ja nicht riskieren, dass noch ein Verehrer zum Erpresser wird, weil ich ihn nicht gut genug behandle, oder?“ Waibel nickte und fühlte sich plötzlich viel leichter, als seine hundertzehn Kilo es ihn jemals vermuten hätten lassen.